Als Jeremiah verloren ging
AUS LONDON UND WIESBADEN KIRSTEN KÜPPERS
Erica Duggan sitzt am Küchentisch mit dem Telefonhörer
in der Hand. Es ist 4.24 Uhr morgens in einem schmalen Haus in einem
nördlichen Stadtteil von London, das Küchenlicht brennt. Erica
Duggan sitzt im Nachthemd vor dem Telefon und weiß nicht, was los
ist. Seit fast acht Monaten sitzt sie so da.
Das stimmt nicht ganz. Ein Teil von Erica Duggan ist vom
Tisch aufgestanden und hält sich mit einer fiebrigen Unruhe
beschäftigt. Dieser Teil von Erica Duggan sitzt jetzt jeden Tag oben
vor dem Computer im Schlafzimmer und guckt ins Internet, diese Erica
Duggan telefoniert, schreibt Briefe und spricht in die Mikrofone der
Journalisten. Sie hat die Stühle beiseite gestellt und den Esstisch
im Wohnzimmer umfunktioniert zu einem großen Papierstapel, sie hat
das Haus umgeräumt zu einer Sammelstelle für Informationen, sie hat
es noch enger gemacht mit den vielen Aktenordnern, den Büchern und
Zeitungsartikeln.
Als das Telefon am 27. März morgens um 4.24 Uhr
klingelte, saß Erica Duggan am Küchentisch, sie hat sich die Uhrzeit
gemerkt. Am anderen Ende der Leitung war ihr Sohn. Der 22 Jahre alte
Jeremiah Duggan rief irgendwo aus Deutschland an, die Verbindung war
schlecht. Jerry sagte: "Im in deep trouble." Das Gespräch brach ab.
Und dann standen am Nachmittag plötzlich zwei Polizisten
vor der Haustür und eröffneten Erica Duggan, dass ihr Sohn tot ist.
Das ist eine Information, die zu groß war für Erica
Duggan. Keine Mutter kann verkraften, wenn ihr Kind stirbt. Sie ist
selbst gestorben an diesem Tag, sagt sie. Erica Duggan hat ein
blasses Gesicht und leuchtend rote Haare. Die blaue Strickjacke und
der Rock wirken zu bieder für diese roten Haare. Aber die
pensionierte Lehrerin denkt nicht daran, wie sie jetzt aussieht.
Seit dem 27. März geht sie zum Schrank und holt irgendwas zum
Anziehen raus, seit diesem Tag hat Erica Duggan traurige, schmale
Augen. Seither hängt ein Teil von ihr am Küchentisch fest, mit einem
leeren Telefonhörer in der Hand, während sich ihre andere Hälfte in
eine nervöse Suche stürzt. Die Aktenordner und die Papierstapel
machen ihren Sohn nicht wieder lebendig. Aber eine Suche ist etwas,
woran man sich festhalten kann.
Jeremiah Duggan war Student in Paris. Auf allen Fotos,
die seine Mutter von ihm zeigt, lacht er. Jerry schrieb heitere
Postkarten, er hatte eine französische Freundin, er ging zu
Konzerten, er las Gedichte und Literatur und lebte das ausgelassene
Leben eines jungen Engländers in der Welt der
Studienaustauschprogramme. "Er war eigentlich eher unpolitisch",
meint seine Mutter.
Im Frühjahr begann sich Jeremiah Duggan mit dem drohenden
Krieg im Irak zu beschäftigen, er war gegen diesen Krieg. Ein
Bekannter lud ihn ein, zu einer Antikriegsveranstaltung des
Schiller-Instituts nach Wiesbaden mitzukommen.
Jeremiah Duggan kannte das Schiller-Institut nicht. Er
las sich das Programm der Konferenz durch und fand es interessant.
Sein Vater hatte seinen 60. Geburtstag an dem Wochenende, aber
Jeremiah entschied, nach Deutschland zu fahren und nicht zur Feier
nach London wie ursprünglich geplant. In Wiesbaden wollte er bei
Leuten vom Schiller-Institut übernachten.
Dann kam der Anruf bei seiner Mutter am Donnerstag früh
um 4.24 Uhr. Auch seine Freundin in Frankreich hat er an diesem
Morgen angerufen. Jeremiah Duggan klang verstört und ängstlich am
Telefon.
Die nächste Information, die es gibt, ist, dass Jeremiah
Duggan auf einer Schnellstraße in Wiesbaden in ein Auto gelaufen
ist. Er wurde von einem weiteren Wagen überrollt und war sofort tot.
Für die deutschen Polizeibeamten ist die Sache eindeutig:
"Selbstmord", sagen sie. Die Autofahrer sind Zeugen. Der junge Mann
ist mit erhobenen Armen in den laufenden Verkehr gerannt, er war
alleine, erklären die Zeugen. Der Fall ist schnell erledigt.
Für Erica Duggan in London ist nichts klar, nichts
eindeutig. Nichts. Für sie klingt alles nur schrecklich und auf eine
raumgreifende Art bedrohlich. Sie fährt nach Wiesbaden und spricht
mit der Polizei, sie redet auch mit ein paar Leuten vom
Schiller-Institut. Einer von ihnen habe erwähnt, dass es auf der
Konferenz eine Auseinandersetzung gegeben habe, in der Jeremiah
gesagt habe, dass er Jude sei. Im Internet hat Erica Duggan gelesen,
dass das Schiller-Institut in Verbindung mit dem mehrfachen
US-Präsidentschaftskandidaten Lyndon LaRouche steht. Der
"LaRouche-Kult" wird als radikal eingestuft, der Spiegel
nennt sie "Weltverschwörungssekte" - LaRouche und seine Anhänger
bestreiten all dies.
Je mehr Erica Duggan erfuhr, desto mehr Widersprüche
taten sich auf. Warum hat die Polizei keine Obduktion von Jerrys
Leiche angeordnet? Wieso gibt es keine Vernehmungsprotokolle von den
Autofahrern, sondern nur einen zusammenfassenden Polizeibericht?
Zwischen Jerrys letztem Anruf und seinem Tod liegen 35 Minuten. Wie
konnte er in so kurzer Zeit die fünf Kilometer zwischen der Wohnung,
in der er übernachtete, und der Schnellstraße zurücklegen? Warum
wurden die Leute vom Schiller-Institut nicht als Zeugen befragt?
Auch scheint es den Polizisten in Wiesbaden vielleicht nicht
wichtig, ob in irgendeiner Akte steht, dass der Junge aus England
unter Kontrollsucht litt - dass er Tür und Licht kontrollierte - und
außerdem Asthma hatte, wie es eine Mitarbeiterin des
Schiller-Instituts berichtete, als sie Jeremiahs Sachen beim
Polizeirevier ablieferte. Aber Erica Duggan sagt, ihr Sohn habe nie
psychische Probleme gehabt. Asthma-Attacken überfielen ihn nur als
Kind. Seit Jahren hatte Jerry die Krankheit im Griff. "Er hatte
keine Probleme", ruft Erica Duggan. Sie sitzt jetzt hinter ihren
Papierstapeln und schreit fast. Und wenn sie daran denkt, was all
diese fremden Leute aus Deutschland nun aus ihrem Jungen machen,
einen verwirrten Selbstmörder. Wenn sie merkt, dass sie Jerry nicht
schützen kann vor all dem. Wenn sie daran denkt, dass ihr Vater als
einziger der Familie den Holocaust überlebt hat, und dass es jetzt
wieder in Deutschland passiert, dass ihr Sohn umkommt. Dann sind das
die Momente, wenn ihr die Sache entgleitet, wenn das Unglück auf sie
fällt wie ein Stein. Erica Duggan sitzt hinter dem Papierstapel und
weint.
Der Leichnam von Jeremiah Duggan wurde nach England
überführt. Eine Obduktion fand statt. Zur Beerdigung kamen viele
Freunde und Verwandte. Ein britischer Untersuchungsrichter übernahm
den Fall, so wie das immer geschieht, wenn ein britischer
Staatsbürger im Ausland zu Tode kommt. Die Untersuchung zog sich
hin. Es dauerte Erica Duggan zu lange.
Sie fing selbst an zu suchen. Zuerst im Internet. Dort
stand, der LaRouche-Kult produziere Verschwörungstheorien, die von
seinen Tarnorganisationen verkauft und von den Parteien des Kultes
als politische Programme vertreten werden. Der Vater von Jerry, ihr
Exmann, fuhr daraufhin zweimal nach Paris. Erica Duggan fing an,
Bücher zu lesen. In einem steht, die LaRouche-Bewegung sei
faschistisch. Erica Duggan bekam Angst. Sie ist vorsichtig geworden.
Aber die Suche nach den Hintergründen wurde zu einer neuen Aufgabe,
sie kann sich entlanghangeln an den Ergebnissen. Irgendwann hat sie
doch angefangen mit Journalisten zu reden. Sie hat alles immer
weiter versucht. Sie hat das Foreign Office, die deutsche Botschaft
und das britische Generalkonsulat eingeschaltet, sie hat Briefe an
deutsche Politiker geschrieben.
Anfang November gab es eine gute Nachricht. Der britische
Untersuchungsrichter hat gesagt, er habe erhebliche Zweifel an der
Selbstmordversion. Jerry Duggan sei "im Zustand größter Angst" vor
das Auto gelaufen. Die britische Presse ist angesprungen auf diese
Nachricht. Es ist ein tolles Thema für die Medien. Es geht um Tod
und Geheimnis. Es geht gegen die Deutschen, und man kann Worte wie
"Antisemitismus" und "rechtsextrem" verwenden. Die britischen
Zeitungen bringen viele Artikel. Eine Zeitung konnte Lyndon LaRouche
zu einem verrückten Zitat bewegen: Er sagte, es handele sich beim
Tod von Jerry Duggan um einen "Hoax", einen Schwindel, konstruiert
von den Unterstützern des englischen Premierministers Tony Blair und
des US-Vizepräsidenten Dick Cheney.
Erica Duggan gibt mittlerweile Fernsehinterviews in ihrem
Wohnzimmer. Sie hat sich immer tiefer in ihre Nachforschungen
gegraben. Manchmal gehen die Vermutungen jetzt mit ihr durch. Sie
will niemand Falsches verdächtigen. Sie sagt nicht, dass die Leute
vom Schiller-Institut ihren Sohn umgebracht haben. Sie will
vorsichtig sein. Aber manchmal weiß sie nicht mehr, ob die
Journalisten nicht auch von Lyndon LaRouche geschickt sind. Ob die
Anwälte, die Polizisten und die Politiker nicht auch LaRouche-Leute
sind. Sie bekommt jeden Tag E-Mails von Aussteigern des Kults.
"Vielleicht schreibt mir Lyndon LaRouche selbst diese Briefe", ruft
Erica Duggan, sie schlägt die Hände vors Gesicht, lacht verzweifelt.
Sie hat den Überblick verloren. Sie liest zu viel. Gerade hat sie
mit einem Buch über Gehirnwäsche angefangen.
In einem Bürogebäude in Wiesbaden, am Ende eines langen
Flurs, sitzt Oberstaatsanwalt Dieter Arlet. Mit der kühlen Milde
eines Behördensprechers, der nah dran ist an dem Fall, aber auch
weit weg, erklärt Arlet: "Wir haben alles Verständnis für die
Mutter. Aber wir haben beim Tod von Jeremiah Duggan keine Hinweise
auf ein Fremdverschulden." Liegen diese Hinweise nicht vor, wird
nicht ermittelt.
Dieter Arlet zieht den Packen Notizzettel zu sich heran,
den er sich zu dem Fall angelegt hat. Natürlich hat er die
britischen Zeitungen gelesen. Er weiß, was sie seiner Behörde
vorwerfen. Deswegen spricht er jetzt von der Unterschiedlichkeit
internationaler Rechtssysteme. "In England wird Motivforschung
betrieben", erklärt er, "da würden Untersuchungen Sinn machen." Auch
der Begriff des Selbstmordes werde in Großbritannien enger gefasst.
Nämlich nur als "willentliche Tötung, sich zu Tode zu bringen".
Wahrscheinlich stoße sich deswegen der britische
Untersuchungsrichter bei Jeremiah Duggan so sehr am Wort Suizid,
meint Arlet. In Deutschland ist das anders. Als Selbstmord gilt
schon, wenn beim Opfer ein Unfall, ein Fremdverschulden oder ein
natürlicher Tod ausgeschlossen werden können. Bei Selbstmord werde
nicht nachgefragt, wer diesen Suizid eventuell verursacht haben
könnte, meint Arlet. "Wir dürfen da gar nicht ermitteln. Auch wenn
es sein kann, da war was." Er zuckt die Schultern. Ein hilfloser
Oberstaatsanwalt. Sie haben nur die Autofahrer als Zeugen gehört.
Sie haben beim Schiller-Institut nicht nachgefragt. Sie haben die
Akte zugemacht. Vielleicht muss das deutsche Justizsystem geändert
werden. Vielleicht ist die Geschichte hier auch einfach zu Ende.
Wenn die Akte zu ist, passiert nichts. Auch der britische
Untersuchungsrichter hat seine Ermittlungen abgeschlossen. Das
Foreign Office in London erklärt: "Wir werden uns keinesfalls in die
Rechtsangelegenheiten eines anderen Landes einmischen." Wer beim
Schiller-Institut anruft, erhält als Auskunft nur den Satz: "Wir
geben keine Stellungnahme ab". In der Wiesbadener Wohnung, in der
Jeremiah Duggan zuletzt übernachtet hat, brennt kein Licht. Die
Straße liegt dunkel und still in der Dämmerung. Weiter unten im
Zentrum machen sich die Touristen fürs Spielcasino bereit, die
Teenager stehen vor dem Bahnhof und rauchen, Oberstaatsanwalt Arlet
fährt in seinen Feierabend. In einem kleinen Haus im Norden von
London sitzt eine Frau am Küchentisch mit dem Telefonhörer in der
Hand. Es ist nach vier Uhr morgens, und die Frau sitzt immer noch
da.
taz Nr. 7215 vom 22.11.2003, Seite 5, 396 Zeilen
(TAZ-Bericht), KIRSTEN KÜPPERS, veränderte
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